Deutschunterricht – mal anders:
Exkursion in das „Schülerlabor Geisteswissenschaften“ am 21.11.2011
Was wird uns bei unserer Exkursion in das „Schülerlabor Geisteswissenschaften“ in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am Gendarmenmarkt erwarten? Werden wir 17 Schüler/-innen aus dem Deutsch-Leistungskurs von Herrn Dr. Eyckeler dort wirklich wissenschaftlich arbeiten können? Und was verbirgt sich hinter dem Veranstaltungstitel: „Vermittelte Empfindungen – Heinrich von Kleist als Kunstbetrachter“?
Wir wussten bis zu dem Tag unserer Exkursion alle nicht so recht, was wir uns von diesem Montagvormittag erhoffen sollten und waren so gespannt und neugierig, als wir den Veranstaltungsraum des imposanten Gebäudes betraten: Namensschilder für alle Teilnehmer, bereitgestellte Getränke, Whiteboard und Powerpoint-Präsentation. Es wirkte alles sehr wissenschaftlich und professionell und sofort hatte man das Gefühl, sich nicht als unwissende/r Schüler/-in fühlen zu müssen. Sondern wir konnten wirklich an diesem erlebnisreichen Tag vollwertig, zumindest wie Studenten, an dem interessanten Thema, was sich für uns mehr und mehr erschloss, eigenständig arbeiten.
Der 21.11. war nicht nur der Tag unserer Exkursion, sondern zugleich das Sterbedatum des deutschen romantischen Literaten Heinrich von Kleist (1777-1811). Welch ein glücklicher Umstand also, dass wir uns genau an diesem zweihundertsten Todestag mit ihm beschäftigen sollten. Viele von uns hatten sich im Vorhinein durch aktuelle Zeitungsartikel oder im Internet über den deutschen Romantiker informiert und waren in gespannter Erwartung, Weiteres über Kleist zu erfahren. Leicht irritiert waren wir deshalb, dass diese Erwartung zunächst nicht erfüllt, der Bezug zu Kleist erst am Ende hergestellt wurde und ein wenig zu kurz kam.
Stattdessen führten uns Frau Dr. Yvonne Pauly als Literaturwissenschaftlerin und Matthias Hahn als Kunstwissenschaftler zurück ins Jahr 1810, in dem in der königlichen Akademie der Künste Berlin zeitgenössische Gemälde, vorwiegend der romantischen Landschaftsmalerei, aus-gestellt wurden. Anhand verschiedener Beispiele, die Matthias Hahn zur Veranschaulichung per Beamer zeigte und erläuterte, erfuhren wir, welche Art von Bildern in dieser Ausstellung vorherrschend gewesen war. Es wurde deutlich, dass diese Bilder den Geschmack dieser Zeit trafen, was für unsere folgende Forschungsarbeit sehr wichtig war.
Unsere nächsten Betrachtungen bezogen sich nämlich auf ein in diesem Zeitkontext sehr atypisches Gemälde, das von den zeitgenössischen Rezipienten als skandalös betrachtet wurde. Wir bearbeiteten intensiv anhand konkreter Aufgaben in Gruppen eine solche Bildrezeption und -reflexion mit dem Titel „Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft“ von Clemens Brentano und Achim von Arnim.
Die Analyse dieser verschriftlichten subjektiven Kunstbetrachtung wurde anschließend - leider nicht von allen Gruppen - vorgestellt. Wir hatten erarbeitet, auf welche Weise sich der Autor in Gedanken in die am Meer stehende Figur hineinversetzt und gespannt ist, ob auch andere Ähnliches empfinden wie er: „Dieser wunderbaren Empfindung nun zu begegnen lauschte ich auf die Äußerungen der verschiedenen Betrachter um mich her (…)“.
Die weitere Art von Rezeption und Kritik anderer Betrachter, die diesem Bild galt, wurde uns danach von Frau Dr. Pauly nähergebracht, die uns vermittels einer Audiodatei Texte von Achim von Arnim und Clemens Brentano vorstellte. Die Texte sind dialogähnlich aufgebaut und stellen die Empfindungen einzelner Betrachter über das Bild in ironischem, scherzhaftem, teilweise dümmlichem Ton, aber auch mit melancholischem und nachdenklichem Charakter dar.
Nach einer Mittagspause mit bereitgestelltem Imbiss trafen sich alle gestärkt wieder im Raum und das bemerkenswert durchdachte, straffe und zielgerichtete Programm ging weiter. Matthias Hahn referierte nun über das Bild „Mönch am Meer“ von Caspar David Friedrich.
Uns war inzwischen schon bewusst geworden, dass sich die vorangegangenen Texte mit diesem beschäftigten. Er erläuterte uns mit der Leidenschaft eines Kunstkenners und -liebhabers sämtliche Details das Bild und den Künstler betreffend, ließ uns aber auch selbst Ideen und Interpretationsansätze äußern.
„Es ist gut, dass die Bilder nicht hören können, sonst hätten sie sich längst verschleiert“, kommentierte Heinrich von Kleist eine solche Art der Kunstinterpretation wie die dialogähnliche Brentanos.
Ist dies der Grund, weshalb er das Werk Brentanos und Arnims überarbeitete? Diese Frage stellten wir uns, als wir schlussendlich auf Kleists Kunstbetrachtung zu sprechen kamen. Er veröffentlichte eine Überarbeitung der zuvor behandelten Texte.
Unser Interesse war noch einmal stark geweckt, denn Kleist veränderte nicht die jeweiligen Kurzdialoge, sondern den ersten Text, der die persönlichen Empfindungen Brentanos beinhaltet. Er strich ganze Wortgruppen weg, ergänzte und fügte sogar noch einen längeren eigenen Teil hinzu. Dadurch machte er Brentanos Empfindungen zu seinen eigenen und erweiterte sie um ganz neue Aspekte.
Tat er dies, um den Künstler Friedrich zu würdigen oder lediglich, um sich selber darzustellen? Passt sein eigener Teil formal und inhaltlich überhaupt zum Teil Brentanos oder ist ein deutlicher Bruch zu erkennen? Darf er überhaupt Brentanos geistiges Eigentum in einer solchen Art abwandeln und ergänzen? Und erinnert dies nicht stark an ein Plagiatsdelikt, ähnlich den aktuellen von gerade erst in Vergessenheit geratenen Berühmtheiten?
Diese und ähnlich Fragen stellten wir uns am Ende unserer Erarbeitungen selbst und gerieten in interessante Diskussionen, die leider aufgrund des Zeitdrucks abgebrochen werden mussten.
Unter der fachmännischen Leitung von Frau Dr. Pauly führten diese jedoch zum zielgerichteten Ende mit allgemeinem Konsens. Die Diskussionen ließen aber - ganz im Sinne des programmatischen Fragmentcharakters der romantischen Literatur - unendliche Fragen zum Weiterdenken offen.
Neben den dankenswerterweise vorbereiteten Erinnerungsmappen, die alle behandelten Texte beinhalten, blieb uns vor allem ein Eindruck, wie man literaturwissenschaftlich arbeitet und in mühevoller Kleinarbeit auf Begebenheiten wie diese problematische Autorschaft stößt. Vielleicht hat das bei einigen aus unserem Leistungskurs sogar zu dem Wunsch eines germanistischen Studiums geführt. Denn interessant und aktuell bleiben solche Fragen nach der (unrechtmäßigen) Aneignung gedanklichen Gutes allemal. Kleist selber bemerkt dazu, gemünzt auf Brentano und Arnim: „Der Buchstabe gehört ihnen, der Geist gehört mir.“
Mira Bierend, Elisabeth von Hausen, Lore Neubert, Josefine Utecht (LK Deutsch, Q3)
Link zur Pressecho-Seite zum „Schülerlabor Geisteswissenschaften“ der BB Akademie der Wissenschaften: Schülerlabor Presseecho